Sonntag, 22. Januar 2006

Du bist schuld

Lange bevor die Aktion "Du bist Deutschland" begonnen hat, wurde bei uns die Kampagne "Du bist schuld" gestartet. Im Gegensatz zur weit aus bekannteren Aktion zur Motivation den Menschen und deren Fähigkeiten geht es bei uns darum jedem Mitarbeiter zu zeigen, was man nicht kann respektive ist.

Die Schirmherrschaft führt seine Majestät König Autistiko II. und wird zwischenzeitlich von einer ganzen Reihe inhumaner Kollegen aus der Führungsetage unterstützt. Das finde ich toll, weil das verbale Einknüppeln auf die Belegschaft eine sehr produktive Methode zur negativen Steigerung der Effektivität ist.

Man fühlt sich super, wenn man am Morgen das Büro betritt und der verbalen Hinrichtung von Kollegen persönlich und/oder akustisch beiwohnen darf. Für Mitleid bleibt da oft keine Zeit, da man sich zwischenzeitlich ausmalt, ob man der nächste Kandidat sein wird.

Typische Themen sind die eigene Kleidung, Trinkgefässe oder andere Grundnahrungsmittel auf dem Schreibtisch, die eigene Gesundheit und die mit der Erhaltung dieser verbundene Arztbesuche, die fehlende Bereitschaft unbezahlte und nicht im Rahmen von Gleitzeit abbaubare Überstunden zu leisten, zu hoher Klopapierverbrauch, kollegiales Verhalten gegenüber anderen Mitarbeitern, Reden während der Arbeitszeit (davon ausgenommen ist halbstündiges Sabbeln von Führungskräften), Abteilungsübergreifender Informationsaustausch zu Sachfragen und Verbesserungsvorschläge jeglicher Art.

Und wenn man es ganz schlecht getroffen hat, dann wird man dem obersten Inquisitor, seiner Majestät König Autistiko II., vorgeführt: Die Verhandlungen in Form von Monologen seitens seiner Majestät König Autistiko II. werden grundsätzlich in einer Lautheit von mindestens 30 Sone und 120 Dezibel Schalldruck geführt. Gegendarstellungen und Rechtfertigungen sind zwecklos. Selbst wenn man tatsächlich mal zu Wort kommen sollte, spielen die eigenen Argumente keinerlei Rolle. Aber selbst das ist noch zu toppen: Wenn seine Majestät König Autistiko II. mal wieder richtig schlecht geschissen hat, dann, getreu der Ad Extirpanda, fliegen auch schon mal Gegenstände in Richtung des Delinquenten. Da hätte selbst Papst Innozenz IV. seine wahre Freude gehabt.

Entsprechende Verhöre scheint seine Majestät König Autistiko II. allerdings als eine Art Antiaggressionstherapie zu nutzen. Nach dem Allmorgendlichen Rundumschlag ist er am Nachmittag schon wesentlich friedlicher, obgleich ich eher glaube, dass ihm schlicht die Puste ausgegangen ist.

Rückblickend betrachtet ist die Aktion ist bei uns außerordentlich erfolgreich: Die Devise "Ich bin schuld" haben die meisten Kollegen bereits verinnerlicht und erstarren in tiefer Demut vor seiner Unausgeglichenheit König Autistiko II.

Die einzige, halbwegs funktionierende Taktik besteht darin, einfach nichts zu machen oder zu sagen bzw. nicht aufzufallen und als notorischer Ja-Sager im geistigen Schatten seine Majestät König Autistiko II. zu bleiben. Diese ist aber wirkungslos, wenn sich seine Majestät König Autistiko II. einen Mitarbeiter als Punchingball ausgesucht hat. Nach einer nur kurzen Phase seelischer Grausamkeit wird man mittels Kündigung erlöst - Amen.

Einen Test auf Zurechnungsfähigkeit würde seine Majestät König Autistiko II. vermutlich nicht bestehen. Das macht aber nichts, denn ICH BIN SCHULD - an allem!

Oder: WER AM LAUTESTEN SCHREIT HAT AM MEISTEN RECHT!

Ich tröste mich mit der Lektüre "De Vita Beata" von Lucius Annaeus Seneca: "Wer sterben gelernt hat, der hört auf, ein Knecht zu sein." ...


Labels: